Anschauungskapitel

 
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter
(Evangeliar Blatt 112 r / Lk 10,25-37)
Hinweis: Im Buch „Christus für uns“ ist das Bild herausklappbar, so dass man es beim Lesen stets einsehen kann. Wenn Sie die Bildbetrachtung lesen möchten, empfiehlt es sich, dass Sie sich den erläuternden Text ausdrucken und beim Lesen das Bild auf dem Monitor anschauen. Im Buch nimmt die Kurzauslegung des Bibeltextes (Lk 10,25-37) 3 ½ Seiten und die anschließende Bildbetrachtung 5 ½ Seiten ein.
Bitte Bild anklicken
zum Vergrößern
Das bekannte Gleichnis vom barmherzigen Samariter wird im Evangeliar Heinrichs des Löwen künstlerisch gedeutet und ausgelegt, wobei die in den vier Bildecken gemalten Gestalten und die Sprüche in ihren Feldern für die Aussagen dieser Miniatur von besonderer Bedeutung sind. Doch achten wir zunächst auf den Text – Lk 10,25-37 –, der die inhaltliche Grundlage der Miniatur darstellt. Dieser Text beinhaltet sehr viel mehr als nur das vielen Menschen vertraute Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Kein Gleichnis wird so missverstanden wie dieses. Viele missdeuten es in dem Sinne, dass Jesus damit zum Ausdruck bringen wollte: Hilf einem Menschen, wenn er in Not ist! Aber Jesus war kein Moralapostel, der solche Bin-senweisheiten verbreitete. Wenn wir auf die Rahmenverse achten (Lk 10,25-28.36-37), in die das Gleichnis eingebettet ist, dann entdecken wir, was Jesus in Lk 10,25-37 wirklich sagen wollte:
25 Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? 26 Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? 27 Er antwortete und sprach: "Du sollst den Herrn, dei-nen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst" (5.Mose 6,5; 3.Mose 19,18). 28 Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. 29 Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? 30 Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. 31 Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn ging er vorüber. 32 Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. 33 Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; 34 und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. 35 Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. 36 Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? 37 Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
Ein Schriftgelehrter fragt Jesus: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“ (Lk 10,25). Anders formuliert könnte diese Frage auch lauten: Meister, wie diene ich Gott so, dass ich vor ihm im Endgericht bestehen kann? Dass es hier in der Tat um einen Gottes Willen gemäßen Dienst Gottes geht, macht der Fortgang des Gesprächs deutlich. Da zitiert der Schriftgelehrte nämlich mit alttestamentlichen Worten das Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen ..., und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lk 10,27). Jesus gibt dem Schriftgelehrten zu verstehen: „Tu das, so wirst du leben“ (Lk 10,28). Doch hat dieser Schriftgelehrte mit der Nächstenliebe Probleme. Er – der sich das ewige Leben mit Taten der Gottes- und Nächstenliebe verdienen zu können meint – möchte schließlich nichts falsch machen, um nicht vom ewigen Leben ausgeschlossen zu werden. Darum fordert er Jesus auf, genauer zu definieren, wer denn als sein Nächster zu gelten hat: „Wer ist denn mein Nächster?“ (Lk 10,29). Da erzählt ihm Jesus das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,30-35).
Damit wir die Aussage dieses Gleichnisses nicht verfehlen, müssen wir immer wieder an die Ausgangsfrage des Schriftgelehrten zurückdenken: Was muss ich tun, damit ich des ewigen Lebens teilhaftig werde, d.h. wie diene ich Gott recht? Es fällt auf, dass im Zusammenhang von Lk 10,25-37 Vertreter wichtiger religiöser Gruppierungen des Judentums der Zeit Jesu auftauchen, die Gott mit Ernst dienen wollen. Der Schriftgelehrte steht für die Gruppe jüdischer Frommer, die meinen, sich durch die genaue Beachtung der im Alten Testament überlieferten Gebote Gottes das ewige Leben sichern zu können. Auch die im Text nicht genannten, den Schriftgelehrten nahe stehenden Pharisäer gehören zu diesem Frömmigkeitstyp. Leute wie sie verachten Menschen, die es mit dem Halten der Gebote Gottes nicht so genau nehmen
(Lk 18,9.11). Ihre mangelnde Nächstenliebe steht im Widerspruch zum Doppelgebot der Liebe.
Das Gleichnis Jesu erzählt von Räubern, die einen von Jerusalem nach Jericho hinabziehenden Juden überfielen. „Räuber“ ist ein neutestamentlicher Ausdruck für die religiöse Gruppe der „Zeloten“
(vgl. Mk 15,27). Die Zeloten waren der Überzeugung, Gott in der Weise dienen zu müssen, dass sie gegen die heidnische römische Besatzungsmacht mit Waffengewalt vorgingen. Sie lebten als Partisanen in Höhlen versteckt. Um zu überleben, überfielen sie hin und wieder andere Menschen, erpressten von ihnen Lebensnotwendiges oder raubten sie bei Gegenwehr gewaltsam aus; danach zogen sie sich wieder in ihre Höhlen zurück. Einen solchen räuberischen Überfall durch Zeloten („Räuber“) schildert Jesu Gleichnis. Gott zu dienen schloss für die Zeloten Gewaltanwendung ein bis hin zur Tötung von Menschen, von Feinden Gottes und seines Volkes. Ihr Verhalten stand in deutlichem Widerspruch zum Doppelgebot der Liebe.
In dem Gleichnis begegnen uns ferner ein Priester und ein Levit. Beide haben für eine bestimmte Zeit das gottesdienstliche Leben am Jerusalemer Tempel verantwortlich mitgestaltet
(vgl. Lk 1,5-10.23), wobei der Priester mit höheren Aufgaben betraut war (vgl. z.B. 5.Mose 33,10), während der Levit als Sänger im Tempelgottesdienst, als Hüter der Tempeltore (vgl. 1.Chr 23,5) oder auch als Prediger (vgl. 2.Chr 17,7-9) tätig gewesen sein mochte. An der Not des von den Räubern übel zugerichteten Menschen gehen diese geistlichen Amtsträger vorüber. Ihre mangelnde Nächstenliebe steht in deutlichem Widerspruch zum Doppelgebot der Liebe.
Schließlich spricht das Gleichnis von einem Samaritaner (Luther: „Samariter“). Aus jüdischer Perspektive konnte dieser Mann Gott gar nicht richtig dienen. Denn die Samaritaner hatten sich glaubensmäßig von den Juden getrennt und auf dem Berg Garizim in Samaria in Konkurrenz zum Tempel von Jerusalem ein eigenes Heiligtum errichtet
(vgl. Joh 4,20). Für die Juden waren die Samaritaner Ketzer (vgl. 2.Kön 17,24-41; Joh 4,9). Und ausgerechnet ein Samaritaner – so macht Jesus in seinem Gleichnis deutlich – ausgerechnet ein solcher in den Augen der Juden zu verachtender Ungläubiger (vgl. Joh 8,48) dient Gott in rechter Weise. Bei ihm fallen Gottes- und Nächstenliebe nicht auseinander, sondern sie stehen bei ihm in Einklang. Er kümmert sich um die konkrete Not des ausgeraubten und geschundenen Menschen, er nimmt sich Zeit für ihn und schont dabei auch seinen Geldbeutel nicht. Ja, wenn man bedenkt, dass Juden und Samaritaner miteinander verfeindet waren, dann ist der dem Juden helfende Samaritaner zugleich auch ein eindrückliches Beispiel für die Feindesliebe (vgl. Mt 5,44), die vollkommenste Form der Nächstenliebe.
Betrachten wir jetzt die Miniatur zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus dem Evangeliar Heinrichs des Löwen. Das Gleichnis ist in einem Doppelbild wiedergegeben. Im oberen Teil sehen wir eine sehr bewegte Szene: Die Räuber haben sich gerade über den von Jerusalem nach Jericho hinabziehenden Menschen hergemacht und schlagen auf ihn ein. Links und rechts von ihnen sind die Stadttore von Jerusalem und Jericho gemalt. Irgendwo auf dem Weg zwischen beiden Städten ereignet sich der im Bild dargestellte Überfall.
In den Ecken des Bildes erscheinen oben links und rechts die auch in anderen Miniaturen des Evangeliars begegnenden Figuren „Bräutigam“ und „Braut“, womit Christus und seine Kirche gemeint sind (vgl. dazu S. 28). Im Feld des Bräutigams Christus steht ein Gotteswort aus dem Propheten Nahum: „Ich habe dich geschlagen, und ich werde dich nicht weiter schlagen“
(Nah 1,12). Auf das Geschick des misshandelten Menschen bezogen meint dieses Wort zunächst einmal, dass er von Gott davor bewahrt wurde, erschlagen zu werden. Auch das aus dem Hohenlied stammende Wort im Feld der Braut nimmt direkten Bezug auf das in Lk 10,30 geschilderte Geschehen zwischen Jerusalem und Jericho: „Sie schlugen mich wund und nahmen mir meinen Überwurf“ (aus Hld 5,7). Mit diesem Bibelwort im Munde der Braut, also der Kirche wird zugleich ausgesagt, dass es auch der Kirche so ergehen kann wie dem unter die Räuber Gefallenen: Leiden und Verfolgung können sie treffen. Als Trost hat dann auch für die Kirche (die Braut) zu gelten, was Christus (der Bräutigam) zu sagen hat: „Ich habe dich geschlagen, und ich werde dich nicht weiter schlagen.“ Die Kirche wird also in Verfolgungen nicht untergehen. Die Miniatur aus dem Evangeliar Heinrichs des Löwen stellt somit nicht nur das böse Geschick des von Jerusalem nach Jericho gehenden Juden dar, sondern sie versteht sein Ergehen auch als Hinweis auf ein mögliches Leiden der Kirche, wie es in den vielen Jahrhunderten der Kirchengeschichte immer wieder vorkam und vorkommt, dass Christen um ihres Glaubens willen verfolgt werden, weil ihr Glaube den politischen oder religiösen Machthabern ein Dorn im Auge ist.
Die untere Bildhälfte zeigt uns den verbundenen und auf einem Esel sitzenden überfallenden Menschen. Der Esel wird von dem Samaritaner geführt. Sie sind bei der Herberge angelangt. Der Samaritaner überreicht dem Herbergswirt – er ist im Bild ganz links dargestellt – gerade zwei Silbergroschen. Seine begleitenden Worte stehen auf dem Spruchband in seiner linken Hand: „Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme“
(Lk 10,35). Ganz rechts in der unteren Bildhälfte sind der Priester und der Levit gemalt, der eine in der Tracht eines Erzbischofs, der andere im Gewand eines Diakons. Mit dieser Aktualisierung der im Gleichnis begegnenden geistlichen Amtsinhaber weist der Mönch Herimann eindrücklich darauf hin, dass auch herausragende Vertreter der Kirche in der Lage sind, lieblos zu handeln und das Doppelgebot der Liebe zu missachten. Die beiden Geistlichen winken mit der rechten Hand – der eine freundlich-unverfroren und der andere ablehnend – den Menschen im Bilde zu, selber im Hintergrund bleibend, wohl froh, sich nicht persönlich um die Not dieses Menschen kümmern zu müssen. Ihr Verhalten lässt an jene Menschen heute denken, die auf Bahnhöfen, in Zügen oder auf der Straße Zeugen von Gewalttätigkeiten werden, die jedoch wegschauen oder weitergehen, ohne selber einzugreifen oder Hilfe herbeizurufen.
Wieder deuten zwei in das Bild ragende Gestalten unten rechts und links das Geschehen. In der unteren rechten Bildecke ist der Prophet Micha mit einem Zitat aus seinem Buch abgebildet: „Der Herr wird dich aus der Hand deiner Feinde erlösen“
(Mi 4,10). Dieses Wort hat im Zusammenhang mit der Miniatur mehrfachen Sinn. Durch den Samaritaner hat Gott den Juden aus der Hand seiner Feinde, der Räuber gerettet, die ihn fast um sein Leben gebracht hätten. Durch den Samaritaner hat Gott den Halbtoten aber auch aus der Hand liebloser Religionsvertreter wie Priester und Levit oder Erzbischof und Diakon errettet, deren (ab)winkende Hände ins Auge fallen. Darüber hinaus hat das Wort des Propheten Micha auch Bedeutung für die verfolgte Kirche, deren böses Geschick hier gleichnishaft abgebildet ist (s.o.). Die in der rechten Bildecke oben dargestellt Braut – die Kirche – klagt ja mit Worten aus Hld 5,7: „Sie schlugen mich wund und nahmen mir meinen Überwurf.“ Ihr gegenüber begegnet in der Miniatur das Wort des Propheten Micha: „Der Herr wird dich aus der Hand deiner Feinde erlösen.“ Durch diese Gegenüberstellung verstärkt die Miniatur die Aussage, dass Verfolgung die Kirche nicht zerstören kann.
In der Zeit der Entstehung des Evangeliars Heinrichs des Löwen kannte man die Deutung des barmherzigen Samariters auf Jesus Christus selber. Sie ist insofern nicht unsachgemäß, als Christus sich in seinem Leben und Wirken genauso verhalten hat wie der Samariter im Gleichnis. Gottesliebe und Nächstenliebe fielen bei ihm nicht auseinander, sondern er liebte Gott und die Menschen vollkommen bis zum Tod am Kreuz. Trotz seines bitteren Geschicks blieb er seinem Gott untrennbar verbunden, obwohl er am Kreuz persönlich nur Gottes Ferne erfahren konnte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
(Mk 15,34). Dieses Psalmgebet (Ps 22,2) bringt seine Gottesliebe – seine innige Verbindung mit Gott – bis zu seinem bitteren Ende zum Ausdruck. Und für die Menschen, die ihn auf schmerzvolle Weise um sein Leben brachten, bat der Gekreuzigte in vollkommener Nächstenliebe: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34).
Der Schriftgelehrte fragt Jesus: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?“
(Lk 10,25). Jesus antwortet ihm mit einer Gegenfrage: „Was steht im [alttestamentlichen] Gesetz geschrieben? Was liest du?“ (Lk 10,26). Daraufhin zitiert der Schriftgelehrte zwei zentrale alttestamentliche Weisungen (5.Mose 6,5; 3.Mose 19,18), die den Willen Gottes im Doppelgebot der Liebe zusammenfassen (Lk 10,27). Die unbedingte Zusammengehörigkeit von Gottes- und Nächstenliebe macht Jesus dem Schriftgelehrten dann mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter klar, das nicht nur dem Schriftgelehrten, sondern allen religiösen Gruppierungen im damaligen Judentum, in der nachfolgenden Kirche und auch heutigen Menschen zu denken gibt: Wer von uns Menschen liebt Gott ungeteilt? Wer ist zu so selbstloser Liebe bereit und fähig wie der Samariter im Gleichnis? Mangelt es uns Menschen nicht an Gottes- oder Nächstenliebe oder an beidem? Nun sagt Jesus dem Schriftgelehrten aber: „Tu das, so wirst du leben“ (Lk 10,28.37). Übe Gottes- und Nächstenliebe, dann wirst du in Gottes Ewigkeit eingehen. Doch wenn wir Menschen ehrlich sind, dann müssen wir zugeben: Das schaffen wir nicht, das tun wir nur bruchstückhaft. Damit stellt sich die Frage, wer dann überhaupt das ewige Leben erlangen kann (vgl. Mk 10,26-27).
Schauen wir von dieser Frage her noch einmal auf das Bild, und zwar auf die dem Bräutigam Christus gegenüber gemalte Gestalt links unten. Da haben wir den Apostel Paulus vor uns, der sich zeit seines Christenlebens mit der Frage auseinander gesetzt hat, wie Menschen in das ewige Leben bei Gott aufgenommen werden, wenn sie doch trotz größten Bemühens die im alttestamentlichen Gesetz aufgeschriebenen göttlichen Gebote nicht halten können
(s. z.B. Röm 7,7-25). Seine Antwort auf diese Frage entfaltet Paulus in vielfältiger Weise in allen seinen im Neuen Testament aufbewahrten Briefen. Im Folgenden sollen die Aussagen des Paulus kurz und einfach dargestellt werden, damit die Bedeutung des im Feld des Paulus aufgenommenen Wortes verständlich wird.
Kein Mensch ist nach der Überzeugung des Paulus in der Lage, sich mit Werken der Gottes- und Nächstenliebe die ewige Seligkeit selbst zu verdienen
(Röm 3,20a; Gal 2,16). Sind deswegen alle Menschen verloren? Nein, sondern weil einer – Christus – „gerecht“, das heißt Gott ungeteilt gehorsam war und Gott und die Menschen nach Gottes Geboten vollkommen geliebt hat, darum sieht Gott uns Menschen um seinetwillen als „Gerechte“, das heißt als Menschen an, die vor ihm bestehen können (Röm 5,18-19; 8,32-34); darum legt Gott unseren Ungehorsam gegenüber seinen Geboten der Gottes- und Nächstenliebe auf Jesu Schulter und lässt ihn für uns sterben: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt [= die vor Gott bestehen kann]“ (2.Kor 5,21; Gal 2,20; vgl. dazu S. 44f.). Menschen, die darauf vertrauen, steht der Weg ins ewige Leben offen: „Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren [= als wir uns gegen Gott auflehnten und seinen Willen verachteten], um wie viel mehr werden wir nun selig [= gerettet] werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind“ (Röm 5,10). „Durch die Gerechtigkeit des Einen“ (= Christus) ist „für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen, die zum [ewigen] Leben führt“ (Röm 5,18.21; 6,22-23). Indem Christus Gottes Willen nach dem alttestamentlichen Gesetz erfüllte (vgl. Mt 22,36-40), „erlöste er die, die unter dem Gesetz waren“ (Gal 4,4-5). Er hat sie, wie es Gal 3,13 sagt, vom „Fluch des Gesetzes erlöst“, d.h. von dem Druck befreit, die Gebote des Gesetzes erfüllen zu müssen, um das ewige Leben zu erlangen. Christus hat uns Menschen also von der Angst befreit, verloren zu gehen, wenn wir gegen Gottes Gebote des alttestamentlichen Gesetzes verstoßen.
Genau dieses Pauluswort aus Gal 3,13 ist unten links im Feld des Paulus zitiert: „Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes erlöst.“ Damit antwortet die Miniatur auf die oben angesprochene Frage, wie wir Menschen das ewige Leben erlangen können, wenn wir doch der vom alttestamentlichen Gesetz geforderten Gottes- und Nächstenliebe mit unserem Leben nicht entsprechen. Die Miniatur weist mit der Gestalt des Paulus und dem Zitat aus Gal 3,13 eindrücklich darauf hin, dass wir Menschen nicht mehr unter dem Zwang stehen, uns das ewige Leben mit religiösen und sozialen Leistungen auf dem Gebiet der Gottes- und Nächstenliebe verdienen zu müssen. Das ist wahr!
Doch gilt es, auch dieses zu beachten: Christen sind vom „Fluch des Gesetzes“ erlöst; sie nehmen die Gnade Gottes im Glauben an und vertrauen auf die Lebenshingabe Jesu Christi für uns Menschen
(Röm 3,24.28). Aber diese Gnade ist keine „billige Gnade“. Christus ist nicht dafür gestorben, dass sich die Glaubenden um die Gottes- und Nächstenliebe nicht weiter kümmern, weil Gott ihnen ja doch vergibt (vgl. Röm 6,1). Wer so denkt, nimmt Christus und Gott nicht ernst. Sondern mit dem bildlich dargestellten Gleichnis vom barmherzigen Samariter will die Miniatur die Glaubenden durchaus auch zum selbstkritischen Nachdenken darüber bewegen, ob denn bei ihnen Gottesliebe und Nächstenliebe in Einklang stehen oder nicht. Christen, die ehrlich mit sich sind und ihre Mängel wahrnehmen, brauchen nicht zu verzweifeln; denn Christus ist ja für sie, für die Sünder gestorben (vgl. dazu S. 48). Ihr ewiges Leben ist dadurch nicht gefährdet (vgl. 1.Joh 1,8-9). Christen, die ein Defizit an Gottes- und Nächstenliebe bei sich feststellen, können Gott um seinen Heiligen Geist bitten, der ihnen helfen wird, ihren Mangel zu überwinden: „Der Geist Gottes ... lässt als Frucht eine Fülle von Gutem wachsen, nämlich: Liebe, Freude und Frieden, Geduld, Freundlichkeit und Güte, Treue, Bescheidenheit und Selbstbeherrschung“ (Gal 5,22-23 [Gute Nachricht Bibel]).

 

Pfarrer Dr. Hermann Mahnke, Dietrich-Bonhoeffer-Str. 2, 37574 EINBECK; Tel. 05561-3135631;
Fax: 05561-3135632; E-mail: Hermann.Mahnke@gmx.de